Marc Raabe
Die Hornisse (Tom Babylon-Serie 3)
Thriller
ISBN 9783864931512
Auch als E-Book erhältlich.
PROLOG
Berlin, WaldbühneFreitag, 18. Oktober 21:38 Uhr
Seine Nerven sind gespannt wie eine Bogensehne. Der Din-A4-Umschlag, den er unter dem Innenfutter seiner Jacke versteckt hält, macht ihn nervös. Ihm ist warm, er weiß, dass er nach Schweiß riecht.
Er zeigt ein weiteres Mal seinen scheckkartengroßen Ausweis, wobei er versucht, seine Augen im Schatten der Mütze zu halten. Die zwei Typen nicken unterkühlt. Winken ihn durch. Der eine rümpft die Nase. Und so was nennt sich Security! Er hört schon die Fragen der Polizei. Die spitzen Formulierungen, den Vorwurf, dass ihnen doch etwas hätte auffallen müssen. Vermutlich werden die zwei ihren Job verlieren. Vielleicht verlieren auch noch andere ihren Job. Selbst schuld, wenn man einer blöden Plastikkarte glaubt.
Er geht zwischen mannshohen Absperrgittern das letzte Stück durch den Wald. Links, hinter dem Sichtschutz, sind die Massen. 22 290 Menschen, schreiend, jubelnd, sich im Takt wiegend und klatschend.
Gut, dass er sie nicht hört.
Gut, dass er fast gar nichts hört von all dem Aufruhr.
Er wirft noch einmal einen Blick auf das Foto in seinem Handy, prägt sich das Gesicht der Frau ein. Ende dreißig, blond. Ein wirklich hübsches Gesicht, das muss er zugeben. Aber das steht jetzt nicht zur Debatte. Er steckt das Handy wieder ein. Der Ausweis schaukelt an dem langen blauen Band um seinen Hals. Die Bäume über ihm greifen in den dunklen Himmel. Der Umschlag unter seiner Jacke wiegt schwer, obwohl er recht leicht ist. Im Inneren ist etwas Längliches, Rechteckiges – so viel konnte er ertasten. Was ist länglich, rechteckig und »von zerstörerischer Kraft«?
Denn genau das war das Versprechen gewesen, der Umschlag sei »von zerstörerischer Kraft«. Mehr hat er bei der Übergabe nicht erfahren.
Schweiß läuft ihm zwischen den Schulterblättern den Rücken hinab. Die Schaumstoffpfropfen in seinen Ohren drücken. Er hasst das taube Gefühl, das sie im Kopf machen. Doch noch mehr hasst er den Lärm, der hier herrscht. Ohne die Pfropfen in den Ohren würde ihn das alles irremachen.
Er bremst seine Schritte. Die Rückseite der Bühne liegt vor ihm, ein Klotz aus Stein und Beton, der noch aus der Zeit des Nationalsozialismus stammt. Für die Zuschauer ist das hässliche Ding nicht zu sehen, von vorne dominiert das geschwungene weiße Dach der Waldbühne mit seinen zeltartigen Spitzen. Direkt am Hintereingang sind ein paar Dixi-Klos aufgestellt; für alle Fälle. Laminierte Zettel mit den Namen der Künstler kleben an den Türen.
Brad Galloway.
Er wünschte, die Hornisse könnte ihn jetzt sehen, könnte Zeuge sein, wie er alles ins Rollen bringt. Der Gedanke lenkt ihn für einen Moment ab. Was nicht gut ist. Er muss weiter. Erst der Umschlag, dann alles andere. Am liebsten hätte er, dass es heute gleich weitergehen würde. Aber das ist nicht der Plan.
Nervös betritt er den Gang. Roher Beton.
Der Tunnel der Stars. Wer hier schon alles durchgelaufen ist! Er öffnet den Reißverschluss seiner Jacke. Der Umschlag ist wattiert, die Oberfläche steif und glatt, sie knistert leise.
Länglich, rechteckig, von zerstörerischer Kraft.
Was könnte das sein? Plastiksprengstoff? Das würde passen. Semtex oder so was. Er will auf keinen Fall in der Nähe sein, wenn der Umschlag geöffnet wird. Denn er wird schnell geöffnet werden, allein schon wegen des roten Stempels. Urgent! – Dringend. Wie dieser Song von Foreigner aus den Achtzigern. Das war zwar etwas vor seiner Zeit, aber mit Musik kennt er sich aus. Die Melodie ist sofort in seinem Kopf.
Got fire – in your veins.
Burnin’ hot - but you don’t feel the pain.
Der Tunnel endet und vor ihm öffnet sich die Bühne. Licht pulsiert. Strahlen schneiden den Nebel in Scheiben. Vor seinen Augen explodiert ein Farbspektakel, Galloway und seine Band mittendrin, dahinter erheben sich die dicht besetzten Zuschauerränge des riesigen Amphitheaters.
Er kneift die Augen zusammen und mustert die Ränder der Bühne. Wo zum Teufel ist jetzt die Frau?
Eine Gruppe Menschen steht im Schatten eines Boxenturms; offenbar die Backstageloge für Groupies, Lakaien und Manager. Er läuft darauf zu, versucht im Streiflicht die Frau auszumachen. Der wattierte Umschlag scheint seltsam heiß zu werden zwischen seinen Fingern.
Wer sagt eigentlich, dass das Semtex erst hochgeht, wenn der Umschlag aufgerissen wird? Es könnte auch ein Zeitzünder sein. Oder ein Fernzünder …
Zuzutrauen wär’s ihm.
Er muss das Ding loswerden. Sofort.
Von links kommt eine Kamera herangeflogen, auf einem federnden Metallarm vor die Brust des Kameramanns geschnallt. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Linse ihnerfassen kann, huscht er beiseite. Das Bild der Steadicam erscheint groß wie ein Haus auf dem Screen an der Rückwand der Bühne und zeigt Galloways Rücken vor einem Meer aus Fans.
Ein paar Schritte noch, dann ist er bei der kleinen Menschengruppe am Rand der Bühne, und plötzlich sieht er sie. Kein Zweifel, das ist die Frau auf dem Foto. Nur ihr Gesichtsausdruck ist anders, irgendwie bedrückt. Fast tut sie ihm leid. Sie wäre besser wirklich nicht hier.
Fuck. Zweifel sind das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann. Die Hornisse hat das alles hier zu verantworten, niemand sonst. Ohne sie wäre das alles nie passiert. Also Umschlag übergeben und weg hier. Die Bühne vibriert. Die Frau steht da, wiegt mechanisch die Hüften, hat nur Augen für Galloway.
Er stupst sie an und hält ihr seinen Ausweis unter die Nase. »Hey. Ich soll ihm das geben«, brüllt er, hebt den Umschlag und deutet auf Brad Galloway.
Sie runzelt die Stirn, sagt etwas, doch durch die Ohrstöpsel versteht er nichts.
»Du triffst ihn doch gleich, in der Garderobe, oder?« Er tippt auf den roten Stempelaufdruck. »Ist dringend!«
Sie zuckt mit den Schultern, wirkt unschlüssig. Er nutzt den Moment und drückt ihr den Umschlag in die Hand. »Danke!«
Bevor sie etwas erwidern kann, dreht er sich um und lässt sie stehen. Auf der Treppe nimmt er jeweils drei Stufen auf einmal. Bloß nicht zur falschen Zeit am falschen Ort sein...
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